Elfriede Hengstenberg  (1892 – 1992)

Elfriede Hengstenberg verbrachte eine glückliche Kindheit mit 5 Geschwistern in Meran, in den Bergen und Wiesen Südtirols, bis ihr Vater sich beruflich nach Berlin orientierte, wo sie bewegungsreiche Spielzeit in den Bergen sehr vermisste. Schließlich ließ sie sich in München zur Gymnastiklehrerin ausbilden.

Zu einer Zeit, als unter „Turnen und Bewegungserziehung“ militärische Ausrichtung und Drill verstanden wurde, entwickelte sie, angeregt von anderen Reformpädagogen (E. Gindler und H. Jakoby), ihr eigenes Bewegungskonzept, was sie in Privaträumen und -schulen unterrichtete. 

Sie suchte nach Wegen, zunächst Kindern mit Fehlhaltungen, freie und selbstgesteuerte Bewegung zu ermöglichen. 

Sie hatte beobachtet, dass sich die ungünstigen körperlichen Haltungsgewohnheiten der Kinder nicht von außen korrigieren ließen, indem man einzelne Muskelgruppen trainierte, sondern auch durch ein seelisches Ungleichgewicht beeinflusst waren. Körperliche und seelische Haltung standen im Zusammenhang und bedingten einander.

Hengstenberg wollte die Kinder darin unterstützen zu ihrem Körper und seinen Bedürfnissen Vertrauen zu haben und darauf einzugehen.

Von dieser Grundannahme ausgehend entwickelte sie ein ganzheitliches Bewegungskonzept, das an der natürlichen Freude und Neugier der Kinder in Bewegung und an Bewegung ansetzte.

Heute wird es in der Psychomotorik und Motopädie angewendet. 

Ihre entwickelten Bewegungsmaterialien, Haushaltsgegenständen ähnlich, sind als sogenannte „Hengstenberg-Materialien“ auch bei uns und vielen anderen Kindergärten und Schulen im Einsatz. 

1. Ziele und „Beweggründe“ Elfriede Hengstenbergs

Sich aufrichten durch inneres Gleichgewicht
„Die Fähigkeit seinen Bewegungsapparat in einer zweckmäßigen, ihn aufrichtenden Art und Weise zu nutzen, ist in jedem Menschen vorhanden“. (E. Hengstenberg)

Die Kinder bedürfen“ der Gelegenheit, sich die Beziehung zu ihrer Körpermasse ohne Beeinflussung von außen zu erarbeiten. Dann sind sie in der Lage auch in ihrem täglichen Leben selbstständiger, unabhängiger und aufrechter zu sein“. (Jakoby, S. 39…) Denn innere und äußere Haltung bedingen einander.

Sich selbst vertrauen, selbsttätig und selbstständig
„Jedes Baby macht seine Erfahrungen über sich und die Welt zunächst über seinen eigenen Körper. Identität, Selbstkonzept und auch das Selbstwertgefühl entstehen vor allem über den Körper, das heißt, die Bewertung des Körpers ist die Basis für die Selbsteinschätzung.

Das Gefühl eine Wirkung beeinflussen zu können, bildet die Basis für ein Vertrauen in sich selbst. Wenn ein Kind spürt, dass es mit seinem Körper etwas anfangen kann, wird sein Selbstbewusstsein erhöht.“(Gindler, S.45…)

E. Hengstenberg forderte von den Kindern keine Leistung ein: Ihre Intension war: „Die Kinder von sich aus feststellen zu lassen, dass hinter einem geglückten Versuch eine sinnvolle Verhaltensweise stand, die vom eigenen Körper durchgeführt wurde. Wir sollten nur noch mehr darum wissen, dass diese unermüdliche Überwindung von Widerständen aus eigener Initiative, dem Kind jene Spannkraft verleiht, die wir zu erhalten wünschen, und dass die  Auseinandersetzung mit Schwierigkeiten darauf beruht, dass es selbstständig beobachten, forschen und überwinden durfte.“ (E.Hengstenberg…)

Es ist das „intrinsisch motivierte Lernen“.

Zu sich kommen und bei sich selbst sein, 
sind wesentliche Voraussetzungen und ein Ziel des Konzeptes Elfriede Hengstenbergs. 

Zeit und Ruhe sind notwendig, um bei sich zu sein, sich seiner Bewegung bewusst zu werden und sich dann neuen Herausforderungen und Aufgabenstellungen zu stellen. 

Ein „Niemand wird dich stören.!“, „Du hast viel Zeit!“ unterstützt die Kinder bei ihrer Konzentrationsarbeit.

Kurz zusammengefasst:

In den freudig-spielerisch, aber auch von Ernst und hoher Konzentration geprägten Bewegungszeiten, in wiederholten Auseinandersetzungen mit der Schwerkraft, konnten die Kinder mit Haltungsproblemen hemmende, behindernde Haltungen überwinden und aus eigenem Antrieb, selbstbewusst, ihre Entwicklung und Entfaltung gestalten. Sie gewannen im Laufe von Monaten grundlegende Fähigkeiten (zurück), z.B.:

  • Vertrauen in die Geschicklichkeit!
  • Tun bringt Freude!
  • Konzentration lässt eine Aufgabe besser gelingen!
  • Fehler sind hilfreich!

2. Die Rolle des Erwachsenen: 

Eine Grundhaltung in den Bewegungszeiten mit den Kindern ist es, sie spüren zu lassen, dass sie gesehen und wertgeschätzt werden. Wenn ein Kind diese Sicherheit nicht hat, wird es nach Möglichkeiten suchen diese Zuwendung zu erfahren. Unter Umständen stellt es seine Bedürfnisse, – Fähigkeiten, – sich selbst zurück, und orientiert sich nun an den Bedürfnissen der Erwachsenen, um geliebt zu werden. So hat es nicht die notwendige Kraft und Konzentration für seine Entwicklung. 

Verständnisvolles, wertschätzendes Verhalten des Erwachsenen eröffnet dem Kind mehr Chancen auf gute Leistungen. Dann ist es frei von Ehrgeiz- und Angstgefühlen und kann sich entwickeln. 

Begleiten statt belehren
Erwachsene behindern die Kinder oftmals in ihrem Selbstvertrauen und stören sie bei der selbständigen und selbsttätigen Entwicklung.

„Der Erwachsene zeigt oftmals ein bewusstes oder unbewusstes Verhalten, das die Kinder in ihren Interessen, ihrer Wahrnehmung und Interpretation der Umwelt beeinflusst und bestimmt. Wir gewöhnen die Kinder daran, dass nicht sie, sondern die anderen wissen, was gut für sie ist. Es richtet seine Aufmerksamkeit auf die Meinung der Erwachsenen, anstelle selbst zu probieren und seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen zu vertrauen.“ (Kim Traxler, S 48…)

Druck und Strafe, auch Lob und Begeisterungsstürme, lenken ein Kind. Das Kind orientiert sich dann an anderen und verliert die Konzentration für sein Bewusstsein für sich.

Auch sie sah die Aufgabe des Erwachsenen darin, eine „vorbereitete Umgebung“ zu schaffen. 
Sie formulierte die Aufgaben so, „dass die Kinder Spaß daran haben und bereite Gegenstände und Geräte vor, die die Kinder verlocken damit zu experimentieren“ (vergleiche E.Hengstenberg…).

Ihre Materialien hatten einen hohen Aufforderungswert für die Kinder und waren von ihnen ohne die Hilfe der Erwachsenen vielseitig nutzbar. Sie waren so miteinander kombinierbar, dass die Kinder entsprechend ihrer Entwicklung ihre Erfahrungen machen konnten. Dazu gehörte es auch, dass sie Gegenstände und Materialien, die sie von ihrer Konzentration auf sich selbst ablenkten, entfernte.

Die Erwachsenen sollen keinerlei Hilfestellung leisten, weder einem Kind über die Leiter zu helfen, noch ihm beim Balancieren die Hand zu reichen. Er würde dem Kind die persönliche Verantwortung für sein Gleichgewicht abnehmen und es dadurch erst recht in Gefahr bringen. Ohne Hilfestellungen und Schutzmaßnahmen des Erwachsenen wählt ein Kind, seiner selbstbewusst, die ihm entsprechende Höhe und Herausforderung. – Kinder lernen z.B. das Laufen nicht, wenn wir sie an der Hand halten, weil sie dadurch die Übergangspositionen (- das Aufrichten, – Gleichgewicht finden, – Körperspannung einnehmen und schließlich – das Loslassen) nicht üben können. Diese Übergänge sind aber wesentliche Vorstufen des eigenständigen Laufens und beeinflussen dessen Qualität.

Der Erwachsene stellt Regeln auf
Sie geben den Kindern einen Rahmen, Schutz, Sicherheit und schaffen eine förderliche Entwicklungsatmosphäre. 

  • Tu nur das, was du dir heute zutraust! (Denn „das Nachmachen ist eine der schlimmsten Verführungen der Kinder von sich selbst abzukommen. Sie fangen an, sich rein äußerlich nach einem Vorbild zu richten, ohne ein Gefühl dafür, was ihrem augenblicklichen Zustand entspricht. Sie wollen die Etappen des unermüdlichen Probierens überspringen, die derjenige hinter sich hat, der inzwischen Vorbild geworden ist. Ihr Organismus ist aber für solche Anforderungen noch nicht vorbereitet. Die Leistung wird durch Ehrgeiz und Geltungstrieb erzwungen, lässt aber deutlich den Mangel an Qualität erkennen.“ (E.Hengstenberg…))
  • Wir dürfen niemanden verletzen.
  • Wir dürfen niemanden stören.
  • Wir behandeln die Materialien sorgsam.
  • Parcours und Geräte nur barfuß zu benutzen, gehört zur Regel in den Bewegungsstunden mit den Kindern. Sie dient der Kraftentwicklung der Fuß- und Zehenmuskulatur und der Wahrnehmung der Umgebung.

3. Die Hengstenberg-Materialien

Elfriede Hengstenberg wollte in ihren Bewegungsstunden keine Körperübungen zum Nachmachen vorstellen. Ihr Ziel war es, die Kinder anzuregen, sich selbstständig forschend mit etwas auseinander zu setzen. Anfangs dienten ihr dazu Alltagsmaterialien, später ließ sie Bewegungsgeräte anfertigen, die variabel waren, um immer wieder interessant gestaltet zu werden.

Diese Hengstenberg-Materialien, aus Holz gefertigt, ohne effektvolle Farbgestaltung, feingeschliffen, – sind angenehm zu berühren und zu handhaben.

Es sind u.a. unterschiedlich lange Stangen und Bretter, Klötze, verschiedene Leitern, Kippelscheiben, Seile, Hocker, usw. Sie haben auch in unserem Kinderhaus ihren Platz gefunden. Hergestellt werden sie von der Arbeitsgemeinschaft der „Basisgemeinde Wulfshagener Hütten eG“ in Tüttendorf/Süddeutschland. 

Ihr Reiz liegt in der Möglichkeit Kinder (ab ca. 3 Jahren) und auch Erwachsene zu individuellen Aufbauten und Bewegungsherausforderungen einzuladen und anzuregen. 

Die Holzelemente lassen sich zu Bewegungsparcours und Baulandschaften kombinieren und sind mit anderen bekannten Turnhallengeräten zu verbinden, sodass vielfältige Herausforderungen für alle Entwicklungsstufen entstehen können, selbstständig aufgebaut und veränderbar. 

Sie sprechen die Grundformen der Bewegung an, auf denen wiederum konditionelle und koordinative Fähigkeiten aufbauen. Angesprochen sind Erfahrungsbereiche des Gleichgewichthaltens, Laufens, Kletterns, Werfens, Zielens, Stützens, Schwingens, Hangelns, auch des „Sich-entspannens“ und der Hinführung zur sozialen Wahrnehmung.

E. Hengstenberg betonte, dass nicht die Materialien ausschlaggebend für den Erfolg ihrer Arbeit waren, sondern die Art und Weise ihres Einsatzes, der pädagogischen Haltung des Erwachsenen.

4. Elfriede Hengstenberg und Emmi Pikler

Im Jahr 1935 kam es zu einer ersten Begegnung mit Dr. Emmi Pikler, der ungarischen Kinderärztin. Beide stellten fest, dass sie unabhängig voneinander die gleichen Ansätze verfolgten. Sie sahen beide das Bedürfnis nach Selbstständigkeit und -tätigkeit, als wesentliches Merkmal kindlicher Entwicklung und als Grundlage für eine gesunde Entfaltung der Persönlichkeit. 

Beide Pädagoginnen stimmten überein: Wenn sich das Kind der Liebe und Geborgenheit des Erwachsenen sicher ist und sich dann selbstständig mit seinem Gleichgewicht und seinen Bewegungen auseinandersetzen kann, findet es auch sein inneres Gleichgewicht.

E. Pikler realisierte ihre Erkenntnisse vor allem für Kinder unter 3 Jahren, während E. Hengstenberg vor allem Kinder ab dem 3. Lebensjahr begleitete.

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Claudia Brinkmann-Pliete

Literaturangaben:
Hengstenberg, Elfriede: „Entfaltungen“, Herausgeberin Ute Strub, Arbor Verlag, Freiamt, 6. Auflage 2018
Traxler, Kim: „Das Bewegungskonzept Elfriede Hengstenbergs“, Arbor Verlag, Freiamt im Schwarzwald, 2. Auflage 2013