Emmi Pikler (1902 – 1984)

Emmi Pikler
Bildnachweis: Emmi Pikler, CC, skaliert

Jahrzehnte nachdem Dr. Emmi Pikler, Kinderärztin, das „Loczy“, ein Waisenheim für Säuglinge und Kleinkinder in Budapest, gegründet hatte und leitete, wurden Wissenschaftler unterschiedlicher Fakultäten auf sie und ihre Arbeit aufmerksam. Sowohl in medizinisch, wie auch pädagogisch-psychologisch ausgerichteten Fachrichtungen erregte sie große Aufmerksamkeit. Denn etwas war ungewöhnlich und sehr bemerkenswert: Kinder aus ihrem Heim, ohne Eltern aufgewachsen, entwickelten sich trotz dieser schwierigen Grundvoraussetzung sehr positiv. Sie litten weder unter Deprivation noch unter Hospitalismus, den häufigen Problemen von Heimkindern. Überraschenderweise zeigten sie eine insgesamt positive körperliche, seelische und geistige Entwicklung. Sie verfügten über gute schulische und berufliche Fähigkeiten, gründeten Familien und pflegten stabile Beziehungen.

  • Was führte dazu, dass die Kinder, die in ihrem Heim aufwuchsen, seltener unter den Folgeerscheinungen mangelnder Liebe und Fürsorge litten und sich gut entwickelten?
  • Was ist das Bemerkenswerte dieser Kinderärztin und Pädagogin, die heute als beispielhaft für die Anleitung von werdenden Eltern, Eltern mit Kleinkindern in Familienbildungsstätten und für Erzieherinnen in Fachschulen und Tageseinrichtungen für Kinder, gilt?
  • Was sind die Aussagen in Fachbücher und Fortbildungen, die als „Pikler-Pädagogik“ aktuell erscheinen und im Alltag unseres Kinderhauses die Basis für die Begleitung von Kleinkindern bilden?

Leitthemen

Nach gründlichen und sehr detaillierten Forschungen und Beobachtungen, die die Bewegungsentwicklung von Säuglingen und Kleinkindern betrafen, kam E. Pikler zu folgenden Grundaussagen.

1. „Ist ein Kind satt an Beziehung, ist es frei zu spielen.“

Ein Kleinkind muss sich zu jeder Zeit, zu jeder Minute seines Lebens „in der Sicherheit wiegen“, dass seine seelischen und körperlichen Bedürfnisse erfüllt werden. Erst dann ist es in der Lage unbeschwert forschend sich und die Welt zu entdecken. Eine wichtige und notwendige Grundlage für die emotionale und soziale Befriedigung frühkindlicher Bedürfnisse ist dabei eine starke emotionale Beziehung zwischen der Bezugserzieherin und dem Kind, grundgelegt durch achtsame und feinfühlige Dialoge, – beim Wickeln, – Essen, – Schlafenlegen und auch beim – An- und Ausziehen. Die Besonderheit dieser Dialoge „auf Augenhöhe“ wird in folgendem Beispiel deutlich.

Z.B. „Seiner gesunden Entwicklung ist mit freundlichem Sprechen und einer taktvollen Pflege allein nicht Genüge getan. Er braucht u.a. die Erfahrung, dass die freundlichen Worte wirklich an ihn gerichtet sind, dass die sich über ihn beugende Person mit ihren Augen, Worten, Händen auf Antwort – auf seinen Blick, sein Lächeln wartet und auf seine Worte lauscht. So kann das Kind spüren, dass die seinen Körper berührende Hand eine fragende Hand ist, und kann auf die Frage mit Entspannung, dem Nachlassen und Lösen seiner Muskeln oder aber mit vermehrter Spannung, mit Widerstand antworten.“…“ Ein echter Dialog zwischen Erwachsenen und Kind, bildet sich nur dann heraus, wenn das Kind darauf vertrauen kann, dass der Erwachsene wirklich für es da ist, wenn die Gesten (Worte) bittet und fragend sind.“…“Ein solches Miteinanderumgehen entwickelt in ihm ein Gefühl des Vertrauens, das zur Grundlage seiner Persönlichkeit werden kann.“ (vgl. Dr. Maria Vincze)

Wenn ein Kind mehrmals am Tag eine solche Pflegesituation, in ungeteilter Aufmerksamkeit einer immer gleichen Pflegeperson erfährt, fühlt es sich sicher und geborgen. Es nimmt aktiv an den Pflegesituationen teil und erlebt dabei Kompetenz und Selbstwirksamkeit. Es hat Freude und Ausdauer am „gemeinsamen Tun“. Dann kann es wieder allein seinen Interessen folgen.

Z.B. „Die Hände bilden die erste Beziehung des Säuglings mit der Welt. (Außer dem Stillen.) Hände heben ihn auf, legen ihn hin, waschen, kleiden, füttern ihn eventuell auch. Welcher Unterschied: Wie anders ist das Bild der Welt, das sich für den Säugling offenbart, wenn ruhige, geduldige, behutsame, aber doch sichere und entschlossene Hände mit ihm umgehen- und wie ganz verschieden gestaltet sich die Welt, wenn diese Hände ungeduldig, derb oder hastig, unruhig und nervös sind. Am Anfang bedeuten diese Hände für den Säugling alles, sie sind der Mensch, die Welt.“ (vgl. Andrea von Gosen) Nicht die Länge der täglich miteinander verbrachten Zeit war es, die zählte, sondern deren Qualität. Sensibler Beziehungsaufbau, als Voraussetzung für Erziehung und Bildung war der erste Baustein ihrer Pädagogik. Ein weiterer Grundsatz, den sie ihren Mitarbeiterinnen vermittelte, lautete:

2. Vertrauen in die Eigenentwicklungsfähigkeit des Kindes bei der 1.“selbstständigen Bewegungsentwicklung“ und im 2.“freien Spiel“.

2.1. Das Prinzip der „selbstständigen Bewegungsentwicklung“

Erstmals 1940 von ihr in einem Buch veröffentlicht, läutete einen Bewusstseinswandel in der Kleinkindpädagogik ein. Emmi Pikler zweifelte ein in der ganzen Welt verbreitetes, durchaus als absolut notwendig angesehenes Verhalten von Eltern an. Bis dahin ging man davon aus, dass ein Kind nur dann das Sitzen, Stehen und Gehen, usw. lernt, wenn man es mit ihm nur ausreichend übt. Das impliziert auch die Auffassung, dass eine größere Übungsintensität einen schnelleren Lernerfolg bringt.

Ihr Bild vom Kind

Emmi Pikler sah das Kind als kompetente Persönlichkeit, dem man auf der Basis von beziehungsvoller Pflege, im Rahmen seiner Kompetenzen, Raum für autonome Entfaltung seiner Fähigkeiten geben müsse. Ein Kind will wachsen, will lernen, – es hat ein Kompetenzbedürfnis und es möchte beitragen und kooperieren.

In ihren umfangreichen Untersuchungen hatte sie zudem festgestellt, dass auch altersgleiche Kinder aus -genetischen Gründen, auf Grund von -unbeeinflussbaren Reifungsprozessen und -persönlichkeitsabhängigen Faktoren sehr verschieden waren. Jedes Kind folgte seinem individuellen Entwicklungsthema, seinem inneren Bauplan, zu seiner Zeit und in seinem Tempo. Emmi Piklers Grundannahme und Beobachtung war, dass ein Kind „weiß“, was es für seine Entwicklung braucht und aus einem entsprechenden Angebot das auswählt, was es dazu benötigt.

Emmi Pikler vertrat nach ihren Forschungen die Ansicht, dass das Kind weder den Ansporn noch die Hilfe, bzw. Unterstützung des Erwachsenen benötigt, um sich gesund zu entwickeln. Im Gegenteil, dies könne sich sogar hinderlich auf die Entwicklung auswirken! Sie animierten das Kind zu etwas, zudem es noch nicht bereit war. Dies stürzt das Kind nach und nach in die Abhängigkeit zum Erwachsenen, da es verlernt sich auf sein eigenes Gefühl und seine eigene Kompetenz zu verlassen.

Ohne die störenden Handreichungen der Erwachsenen würde es sich achtsamer bewegen, nur das tun, bei dem es sich sicher ist und nach und nach in kleinen Schritten seine Fähigkeiten weiterentwickeln, diese in einer besonderen Qualität, wertvoll für sein Selbstvertrauen und seine Persönlichkeitsentfaltung. Daraus ergaben sich entsprechende Handlungsanleitungen für ihr Pflegeteam. (Vergl. Link 2.3 zu Elfriede Hengstenberg)

Die Rolle der Pflegerin

Vorrangig war ihre liebevolle, aufmerksame Zugewandtheit und sensible Wahrnehmung des Kooperations- und Kompetenzbedürfnisses des Kindes.

Eine entsprechend vorbereitete Umgebung anzubieten, gemäß den beobachteten Entwicklungsbedürfnissen, gehörte zu den weiteren täglichen Aufgaben:

Dabei Respekt und Vertrauen in die Eigenentwicklungsfähigkeit, den individuellen, zeitlichen Rhythmus und die Persönlichkeit eines jeden Kindes zu haben, war erzieherische Grundhaltung der Pflegerinnen. Sie waren „Begleiter“, weniger im Sinne von „Erziehern“, die begriffsbezogen vermuten lassen, dass sie Kinder auf ihre Ebene „ziehen“. Die Kompetenz des Kindes und sein Kompetenzbedürfnis waren bei Entscheidungen für Bewegungs- und Materialangeboten und in Pflegesituationen, z.B. auch bei den Mahlzeiten achtsam zu bedenken. Die Kinder entschieden dabei, ob und wieviel sie aßen, ob sie bereit waren etwas Neues auszuprobieren, sich eine neue Essenstechnik (Essen mit dem Löffel, Essen auf dem Schoß der Pflegerin oder auf dem Essbänkchen, usw.) zutrauten. Vorrang vor Erklärungen und Belehrungen des Erwachsenen hatten die Eigentätigkeit und -aktivität des Kindes und Erfahrungen der Selbstwirksamkeit. „Ein Kind, was durch selbstständige Experimente etwas erreicht, hat ein ganz anderes Wissen, als ein Kind, dem die Lösung fertig angeboten wurde.“ (vgl. E. Pikler) Für das Zusammenleben mit den Kindern leitete sich damit auch der Grundsatz ab, sie nicht in Positionen zu bringen, – zu tragen oder an der Hand zu führen, die sie nicht allein erreichen konnten. Z.B. Ein Kind auf die Rutsche zu tragen, um ihm die Freude des Rutschens zu vermitteln, ist sicher ein, aus der Sicht vieler Erwachsener, verständliches Tun. Wieviel erfreulicher ist es aber dem Kind selbstständig, in seinem individuellen Zeitmaß, die Erfahrung des Hochkletterns, sich vorsichtigen Setzens und dann die Rutschpartie zu genießen, zu überlassen. So kann es die wertvollen Übergangspositionen kennenlernen und vor allem die Freude des „Alleine“-könnens, des Selbstvertrauens und der Selbst-Ständigkeit erfahren. Sie wurden auch nicht in einen sogenannten „Lauflernwagen“ gesetzt, weil sie die Übergangspositionen des Laufens (- Sich-Aufrichtens, – Stehens-ohne-Hilfe, – Geschwindigkeits- und Richtungswechsels, -Sich-Setzens) damit nicht erfahren und entwickeln konnten und in Abhängigkeit vom Erwachsenen gehalten wurden. Beim Erwachsenen setzt es Vertrauen, Sensibilität, Geduld, Zeit und Wertschätzung für diese positive Bewegungs- und Entwicklungsfähigkeit des Kindes voraus.

Loben, Tadeln, Anregen und Motivieren wurden als Lenkungsbestrebungen der Erwachsenen gesehen, die die Kinder von ihren Arbeiten, ihren eigenständigen Bestrebungen ablenkten und darum entsprechend bedacht und zurückhaltend dosiert werden sollten.

„Das Spiel des Kindes ist seine Arbeit.“ E. Pikler erwartete Respekt vor dem Wert des kindlichen Tuns und verknüpfte damit die Notwendigkeit dem Kind Ruhe und Zeit für konzentriertes Arbeiten zu ermöglichen. Laut sprechende Erwachsene, Radiobeschallung oder Ähnliches schien Kinder nicht zu stören? Wieviel konzentrationsfähiger und aufnahmefähiger für wertvolle Eindrücke, auch hinsichtlich der Gehirnentwicklung, sich ein Kind entwickelte, das in Ruhe spielen und „Ruhe“ erfahren durfte, erwies sich möglicherweise erst später…

„Das Spiel des Kindes ist seine Arbeit.“ Dem Kind die Wahl, Dauer und Häufigkeit der Tätigkeit zu überlassen, war ein weiteres Prinzip der Begleitung von Kleinkindern. Die von Emmi Pikler angestrebte Autonomie des Kleinkindes sollte nicht mit „Alleinlassen“ und „Sich-selbst-überlassen“ verwechselt werden:

„Da-zu-sein“, empathisch die Freuden, Mühen und anderen Empfindungen des Kindes wahrzunehmen, anzunehmen und es – dann wieder sich selbst zu überlassen und seine Erfahrungen machen zu lassen, war ein herausfordernder Spagat zwischen Nähe und Distanz in der Aufgabe des Erwachsenen. (Wenn ein Kind nicht in ein Spiel oder zu einer Tätigkeit fand, konnte es bei gutem Material- oder Tätigkeitsangebot auch daran liegen, dass sein emotionales Bedürfnis nach Nähe, Geborgenheit und Beziehung nicht erfüllt und gesättigt war und Vorrang bekommen musste.)

Das Zuschauen, als pädagogischer Anspruch und „sich öffnen“ für die situativen Bedürfnisse, Sichtweisen, Handlungsmotive des Kindes war eine anspruchsvolle Erwartung an die Pflegerinnen im Zusammenleben mit dem Kind. Es beinhaltete auch die Auseinandersetzung und Reflexion der Pflegerinnen mit eigenen Bedürfnissen und Erfahrungen und denen der Kinder.

Der positive Einfluss, den die autonome Bewegungsentwicklung auf Kinder hat, wurde 1964 von der ungarischen Akademie der Wissenschaft und 1972 von der Welt-Gesundheitsorganisation (WHO) nachgewiesen.

Emmi Pikler erforschte sehr differenziert die kindliche Bewegungsentwicklung, von Lagepositionen der jüngsten Kinder, hin zu ersten Dreh-, Stütz-, Krabbel-, Stand-, Geh- und Kletteranalysen. (Hier: Foto von Bewegungsstudien aus d. Buch von Traxler od. Pikler.) Auf Grund dieser Studien und der Erkenntnis, dass auch altersgleiche Kinder, abhängig von genetischen Vorgaben, unbeeinflussbaren Reifungsprozessen und persönlichen Charakteren unterschiedliche Entwicklungsbaustellen bearbeiteten, in individuellen zeitlichen Rahmen und aus innerem Antrieb, – entwickelte sich der Schwerpunkt der Angebote in ihrem Kinderheim: „Das freie Spielen“. Es bedeutete, dass sich das Kind frei, in seinem individuellen Zeitmaß und gemäß seinem individuellen Entwicklungsinteresses, sich selbst und seiner Umgebung, den Materialien und anderen Kindern widmen konnte. „Wir erwarten, dass sie auf Gebieten, auf denen sie dazu fähig sind, ihre Entwicklungsschritte im Spiel selbst tun, sich selbst erarbeiten, bzw. sich selbst „erspielen“. Wir erwarten, dass sie dadurch nicht nur auf diesen Gebieten zu einer besseren Qualität ihrer Fähigkeiten und Kenntnisse gelangen, sondern dass auch ihre gesamte Persönlichkeit, ihre Kreativität und Kompetenz sich besser entfalten können.“

Die vorbereitete Umgebung

Die Kinder wurden gemäß ihrer Bewegungsbedürfnisse kleinen Gruppen zugeordnet, sodass sie einander nicht behinderten oder gefährdeten. Z.B. wurden krabbelnde Kinder von erfahrenen Laufkindern durch Gitterstäbe getrennt, an denen die Krabbler in sicherem Abstand ihre ersten Aufrichterfahrungen machen konnten.

Fragestellungen waren: Wieviel Raum benötigt ein sich drehendes und rollendes Kind? Wieviel Bewegungsfläche braucht ein erkundungshungriges, laufendes Zweijähriges? Wie war gewährleistet, dass jedes Kind seine notwendigen Entwicklungsschritte machen konnte, genügend Herausforderungen fand und auch kleineren Gefahren begegnen konnte? Welcher Fußbodenbelag unterstützte die Fortbewegungswünsche kleiner Krabbler optimal, bzw. behinderte ihr Vorwärtskommen? Welche Kleidung entsprach den Bedürfnissen der kleinen „Körperarbeiter“. Beispielsweise ließ E. Pikler den Kindern Stulpen stricken, die die Fußsohlen und Knie, des besseren Halts wegen, unbedeckt ließen. Im Sommer durften sich die Kinder nur bekleidet mit einer Windel, oder nach dem sie trocken waren, ganz unbekleidet bewegen und spielen.

Besonders der „Garten der Kinder“, der Kindergarten, war ein „die Unendlichkeit des Himmels“ erfahrbarer Spielort, eine „unbegrenzte Quelle für Erfahrungen“, der ganzjährig genutzt und Kleinkind gerecht angelegt, und auch mit Spielmaterialien und -gelegenheiten reich ausgestattet war: „Abhänge, Hügel, Erderhebungen.“ „Düfte, Früchte und Farben der Natur, Jahreszeiten, Wasser, Erde, Wind, Kälte und Wärme wurden zu sinnlich erfahrbaren Naturelementen.“ „Wir sollten ermöglichen, dass in erster Linie Natur den Kindern Erlebnisse bietet.“ Spielen, aber auch Essen, Schlafen, auch das Wickeln und der Toilettengang fanden draußen statt. – Wie anregungsreich auch für unser Kinderhaus…

Die Materialauswahl

Sie sollte den Kindern vielfältige Erfahrungen und Erkundungen ermöglichen. – Keine gleichförmigen auf Knopfdruck erzielten Klang- oder Blinkerlebnisse bescheren und keinen vorgegebenen und monotonen Lehrzielen folgen. „Nichts ist im Kopf, was nicht vorher in den Sinnen war.“ Auch sie lehrte nach dem Grundsatz, alle Sinne des Kindes anzusprechen. Nicht, wie oft erlebbar, Augen und Ohren des Säuglings und Kleinkindes mit Überreizungen zu stimulieren, sondern auch den Bewegungssinn, der ganzkörperlich in Muskeln, Sehnen und Gelenken aktiv ist, vielseitig mit ganzkörperlichen Bewegungsgelegenheiten zu aktivieren. Die Vielzahl der Materialien und Möglichkeiten war dabei ebenfalls sehr bemerkenswert.

Zusammen mit Schreinern entwickelte E. Pikler Holzgeräte, Mini-Leitern ähnlich, die die Kinder zum Hinaufklettern und auf der anderen Seite Hinunterklettern, bzw. -hangeln einluden. Auch die raumtrennenden Spielgitter, die ebenfalls Haltefunktion für erste Geher ermöglichten, entstanden nach ihren Vorschlägen. Offene Holzwürfel mit vielen Einsatzmöglichkeiten und Aufbauvarianten wurden entworfen, die heute in Kindertageseinrichtungen, auch im campus kinderhaus, genutzt werden. Hersteller dieser als „Pikler-Materialien“ bekannten Holzmaterialien ist, wie bei den sogenannten „Hengstenberg-Materialien“ für Kinder über 3 Jahren, die Gemeinschaft „Wulfshagener Hütten“ in Tüttendorf in Süddeutschland. (Foto von „Pikler-Materialien) Das Prinzip der „autonomen Bewegungsentwicklung“ und des „freien Spiels“ ermöglicht dem Kind eine weitere wertvolle Erfahrung:

Das Kind erfährt die Freude des Lernens. E. Pikler: „Der Säugling/das Kleinkind lernt sich selbstständig mit etwas zu beschäftigen, an etwas Interesse zu finden, zu probieren, zu experimentieren. Es lernt Schwierigkeiten zu überwinden. Es lernt die Freude und Zufriedenheit kennen, die der Erfolg, das Resultat einer geduldigen, selbstständigen Ausdauer, für ihn bedeutet“. „Ein Kind ist nicht nur kompetent, sondern hat ein Kompetenzbedürfnis.“

Emmi Piklers Leitlinien für das Leben mit Kleinkindern im campus kinderhaus

Emmi Pikler und ihre Forschungsarbeit haben die Entstehung unseres Kinderhauses maßgeblich beeinflusst. Durch ihr wertschätzendes und respektvolles Bild vom Kind und ihre Erkenntnis und Haltung, die emotionale Bindung eines Kindes an eine Bezugsperson, als Voraussetzung für jegliche Entwicklungsbegleitung zu sehen, fühlten wir uns gut begleitet dieses Projekt zu entwickeln. Sich den Kindern verlässlich, mehrmals am Tag, besonders in Pflegesituationen, mit hohem zeitlichem Einsatz, achtsam zuzuwenden und sie individuell miteinzubeziehen, erwiesen sich als wertvolle Bausteine unseres pädagogischen Handelns. Durch die reduzierte Betreuungszeit auf 35 Betreuungsstunden entstanden unbedingt notwendige Planungs- und Gestaltungszeiten für die „vorbereitete Umgebung“, die die Gruppenteams und jede Erzieherin als Vorbereitungszeit nutzen. So begleiten sie die „autonome Bewegungsentwicklung der Kinder“ und schaffen gute Voraussetzungen für Eigenentwicklung im „freien Spiel“. Kinderhausinterne Fortbildungen zur Begleitung von Kleinkindern nach E. Pikler erweitern die Handlungs- und Angebotsmöglichkeiten in unserer Einrichtung.

Nach 3 Jahren und 3 Eingewöhnungsphasen mit Kindern unter 2 Jahren freuen wir uns, dass die Erkenntnisse, die Emmi Pikler beisteuerte, wertvolle Grundlagen für sehr gelungene Übergangsgestaltungen vom Elternhaus zum Kinderhaus sind. Elternpaare und Kindern haben die erfreuliche Erfahrung machen können, dass eine feinfühlig geplante Übergangsgestaltung mit…

  • viel Zeit und Aufmerksamkeit für jede Familie und jedes Kind
  • sensibler Beziehungsgestaltung und Haltung zur Kompetenz eines Kindes
  • und eine entsprechende Angebots- und Materialauswahl, wertvolle Grundlagen für glückliche, entwicklungsförderliche Lebenszeit in der Einrichtung, und auch für zukünftigen Übergänge, geschaffen haben.

Weitere Erkenntnisse heute:

Emmi Pikler sprach von der selbstständigen Aktivität des Kindes, als „der Hochschule der Säuglinge.“ Heute bestätigen neueste neurologische Forschungen (z.B. Manfred Spitzer, Rainer Strätz, Gerald Hüther u.a.), dass der frühesten Kindheit die entscheidende Rolle für den Hirnaufbau und die darauf aufbauenden lebenslangen Lernmöglichkeiten zukommt.

Hirnforscher Gerald Hüther unterstrich in einem Vortrag zum Thema „Lernen“, dass sich im kindlichen Hirn Nervenbahnen dadurch bilden und vernetzen, dass das Kind Herausforderungen begegnet und sie selbst bewältigt. Damit diese Vernetzungsvorgänge im Gehirn stattfinden, bräuchte es neben dem Sammeln von Erfahrungen in selbstständiger Aktivität eine sichere Beziehung, die diesen zugrunde liegt.

Lernen muss das Kind selbst in einem aktiven Sinne, während das von außen „füttern“ sich in diesem Alter eher störend auswirkt. Der Erfolg und die Freude über die eigene Wirksamkeit setzt Dopamin frei, was den biochemischen Aufbauprozess begünstigt.

Auch im Kinder-Bildungsgesetz für NRW bildet die Eigenaktivität des Kindes die Basis des Lernens in Kindertageseinrichtungen für Kinder von 1-6 Jahren.

Dass „Bewegung mit allen Sinnen“ im Kleinkindalter zu Verknüpfungen der beiden Gehirnhälften des Kindes führt, – Voraussetzung für Lernentwicklung, Konzentration, logisches Denken, usw., hat auch Professorin Dr. Renate Zimmer in der Extra-Ausgabe der Zeitschrift „Kindergarten heute“ beschrieben. Thema: „Begreifen geschieht über Begreifen.“

Noch unbedingt bemerkenswert

Die Aussagen „Alleine!“ und „Selber!“ haben als eine der ersten Forderungen von Kleinkindern nichts an Kraft und Berechtigung verloren. Sie wissen, was sie brauchen!

Claudia Brinkmann-Pliete

Literaturangaben:
Tardos, Anna: „Laßt mir Zeit“. Richard Pflaum Verlag, München: 4. Auflage 2001
Gilles-Bacciu, Astrid / Heuer, Reinhild (Hrsg.) Bildungswerk der Erzdiözese Köln e.V. Pikler Gesellschaft Berlin e.V.:
„Pikler“ Ein Theorie- und Praxisbuch für die Familienbildung
BELZ Juventa Weinheim und Basel: 2. durchgesehene Auflage 2019
Gerber, Magda: „Dein Baby zeigt dir den Weg.“ Arbor Verlag 2007
Pikler, Emmi und Tardos, Anna: „Miteinander vertraut werden“ Herder Verlag, Freiburg 2000